Pragmatik und Textanalyse
Wie wirkt die Pragmatik beim Verständnisprozess eines Textes? Um eine angemessene Antwort zu geben, müssen die Begriffe „Text“ und „Kommunikationsprozess“ erläutert werden.
Wie schon zu Beginn gesagt, möchte ein Kommunikationsprozess die Distanz überwinden. Jeder kennt sowohl die Erfahrung einer intensiven, rationalen und emotionalen Anteilnahme an einer Erzählung, als auch die Erfahrung einer klaren oder nuancierten Distanzierung von einer nicht geteilten Ansicht. Eine authentische Lektüre eines Textes ist „intrigant“, denn wenn ich eine erzählte Welt verstehen möchte, die der meinen ähnelt, verstehe ich sie unmittelbar, während ich bei einer mir entfernten Welt den Text, der mir diese Welt beschreibt, erst auf seine Voraussetzungen und verborgenen Sinne hin analysieren muss. Besonders in diesem zweiten Fall ist die Kommunikation ein arbeitsamer, intensiver Prozess, weil er das Abschaffen von Distanz und das Schaffen von Ähnlichkeit bedeutet.
Dieses Problem stellt sich besonders für die antiken Texte, doch grundsätzlich gilt für alle Texte die Frage, wie man eine Kommunikation aufbauen und die Distanz verringern kann, die es den Lesern erlaubt, in den Horizont des anderen einzutreten?
Die Eigenschaften eines Textes
Ein Text (von lat. texere = weben) ist ein „Gewebe“1 oder wie es K. Berger formuliert: „Ein Netz von Beziehungen“, mit anderen Worten: ein der Kommunikation zugeordnetes Netz von Beziehungen. Auch wenn es hier hauptsächlich um den schriftlichen Text geht, umfasst der Begriff „Text“ auch den mündlichen Ausdruck; vom semiotischen Blickwinkel her könnte man schließlich jede Kommunikation mit Zeichen „Text“ nennen: ein Theaterstück, ein Ballett, einen Film, ein Gemälde, usw.
In der Textdefinition sind zwei zentrale Elemente enthalten:
- der Text ist eine strukturierte und harmonische linguistische Einheit (als Gewebe)
- der Text ist eine linguistische Einheit in Bezug auf die Kommunikation.
Die Tatsache, dass es sich um eine strukturierte und harmonische Einheit handelt, bedeutet, dass der Text nicht nur einen bestimmten, begrenzten Umfang hat, sondern auch durch einen inneren Zusammenhang (Kohäsion und Kohärenz) zusammengehalten wird. Der Umfang eines Textes ist nicht vorgeschrieben: er umfasst die Spannbreite von einem kurzen Satz bis hin zu einem mehrbändigen literarischen Werk.2 Das Wichtigste ist, dass der Text einen in sich abgeschlossenen Sinn ergibt, der durch eine interne Organisation deutlich wird, sei es durch die syntaktische Kohäsion als auch durch die semantische Kohärenz. Diese Charakteristiken erhält der Text durch eine Vielzahl von Elementen formaler Art (z.B. Partikel, Adverbien, Konjunktionen, usw.), aber auch semantischer und pragmatischer Art. Der Text ist gleichsam ein Makro-Zeichen, in dem alle anderen linguistischen Zeichen zueinander in Beziehung stehen, wie z.B. Morpheme, Syntagmen oder auch Sätze.
Die Feststellung, dass ein Text in Bezug auf die Kommunikation eine Einheit darstellt,3 bedeutet, dass er im Vorhaben des Senders einer bestimmten kommunikativen Intention entspricht und sich deshalb innerhalb einer bestimmten Kommunikationsstrategie situiert. Am Text ist also die Funktion, eine Botschaft mitzuteilen, zu erkennen; weiterhin lassen sich die Eigenschaften der Einheit und Vollständigkeit (oder eben deren Fehlen) feststellen sowie die nötigen Eigenschaften bzw. Voraussetzungen benennen, damit die Botschaft wirksam ist und ihr vorgenommenes Ziel erreicht.
Gesprochener Text, schriftlicher Text und Kommunikationsprozess
„(Das Sprechen und das Schreiben) sind beides Formen einer Sprache; beiden liegt das gleiche linguistische Sprachsystem zugrunde. Aber sie verwenden unterschiedliche Eigenschaften des Systems und erlangen ihren Einfluss auf unterschiedliche Weise.“4 Diese Beschreibung hebt hervor, dass das Schreiben und Sprechen zwei unterschiedliche funktionale Varianten des einen Systems Sprache sind; darüber hinaus betont sie, dass jede dieser Varianten ihre eigene Besonderheit hat und auf unterschiedliche Ansprüche antwortet.
Der im Folgenden dargestellte Unterschied zwischen der gesprochenen und der geschriebenen Variante dient dazu, den Kommunikationsprozess zwischen dem Autor eines schriftlichen Textes und dem Leser zu erläutern.
a. Das Mittel: Der gesprochene Text ist ein lebendiger Text, der aus Fragmenten oder ganz kurzen Äußerungen bestehen kann und der mit Formulierungen, Wiederholungen, Erklärungen usw. immer wieder aktuell angepasst wird. Der geschriebene Text ist hingegen eher unveränderlich, außerdem stärker gegliedert, konzis und von größerer lexikalischer und syntaktischer Komplexität.
b. Der Kontext: Der gesprochene Text weist kontingente Eigenschaften auf, die ihn an einen präzisen Gesprächspartner (eine Einzelperson oder eine Gruppe) und an einen eindeutigen Raum-Zeit-Kontext binden. Der geschriebene Text kann hingen unabhängig vom „Hier und Jetzt“ verschiedene Leser und situationelle Kontexte ansprechen; er hat es mit einer gewissen „kommunikativen Distanz“ zu tun, sei es im Blick auf die Situation oder die Kultur, etc.
c. Die Funktion: Was die Funktion betrifft, so können sich ein gesprochener und ein geschriebener Text die gleichen Ziele setzen und die gleiche Funktion erfüllen, denn narrative, deskriptive, argumentative oder regulative Texte können in einem geschriebenen oder gesprochenen Zusammenhang dieselben Absichten verfolgen.
Aus diesen Andeutungen geht hervor, dass ein schriftlicher Text, in dem die Aussagen zu festen Ausdrucksformen geronnen sind, größere Interpretationsschwierigkeiten mit sich bringt als ein mündlicher Text, denn bei einer mündlichen Kommunikation tragen zusätzlich der Tonfall, die Mimik, die Gestik etc. zum Verständnis bei. Welche Elemente muss man als Leser verstehen, um mit dem Autor zu einem kommunikativen Einklang zu gelangen?
Im Zusammenhang mit den Elementen, die die Kommunikation bestimmen, wurde der „Code“ als System von Zeichen erwähnt, durch das die Botschaft vermittelt wird. Einige Linguisten unterscheiden zwischen „Code“ und „Botschaft“, so wie De Saussure zwischen Sprache und Wort unterschied, indem er dem ersten Begriff die Bedeutung eines abstrakten linguistischen Systems5 und dem zweiten den konkreten und kreativen Aspekt der Sprache6 zuschrieb. Um die Mitte des 19. Jhds. hat der Begriff „Code“ Eingang in das Vokabular der Linguistik gefunden. Es gibt elementare Codes, wie z.B. das rote Licht einer Ampel und komplexe Codes, wie das Zeichensystem einer Sprache. Der Code beinhaltet eine bestimmte „Kommunikationsstrategie“. Die Geschicklichkeit dessen, der spricht und/oder schreibt, besteht im Schaffen eines Zeichensystems, das nicht nur das Interesse des Hörers/Lesers auf sich zieht, sondern darüber hinaus auch dessen Zustimmung erlangt. Derjenige, der hört oder liest, muss dagegen auf all jene Elemente achten, die zur Kommunikationsstrategie gehören, also auf die „funktionalen“ Elemente der Sprache, die die eigentlichen „Signale“ (linguistic markers) darstellen. In jedem Fall stellt das Verstehen des Codes/Zeichensystems die Voraussetzung der Kommunikation dar. Hierin sind die Bedeutung der Strategie und das Verstehen der Funktion der verschiedenen Signale in einem Kommunikationsprozess begründet.
In einer pragmatischen Kommunikation gehören zum benutzten Zeichensystem vor allem die deiktischen7 Ausdrücke, die der Sender verwendet, um den Hörer mit einzubeziehen; ein Autor verfügt über viele solcher Ausdrücke. In einer Kommunikation „vis-à-vis“ sind diese Indikatoren unmittelbar wahrnehmbar. Viele Forscher haben sich mit der Kommunikation der Emotionen beschäftigt und haben gezeigt, dass diese fundamentale Komponente des Menschen nicht nur den Menschen im Laufe seines Lebens begleitet, sondern ihn auch in den Augen der anderen mit typischen Ausdrücken charakterisiert.8 Das Interesse, die Überraschung, die Freude, die Wut, die Angst,… haben ein Repertoire von Ausdrucksweisen, die nicht übergangen werden können. N. H. Frijda hat bemerkt, dass „das Repertoire der emotionalen Antworten eine Gruppe von Antwortmodalitäten enthält (…), die der Spezies angeboren sind.“9
In einer schriftlichen Kommunikation können zu diesen deiktischen Zeichen im weiteren Sinne auch die grammatikalischen, syntaktischen und narrativen Kategorien sowie die Gattung, die rhetorische und stilistische Art, etc. gezählt werden, wenn sie vom kommunikativen Gesichtspunkt her nochmals überdacht werden.10 Ein Autor, der seine Erzählung mit „es war einmal“ beginnt, lädt die Leser ein, die Haltung eines Kindes zu übernehmen und bereitet sie darauf vor, in eine fantastische Welt einzutreten. Es gehört zur Textkompetenz der Leser, die literarische Gattung eines Textes sowie die Funktion gewisser linguistischer Elemente und extra-linguistischer Parameter zu erkennen, die bereits das Verstehen in eine bestimmte Richtung lenken.
Ein weiteres wichtiges Charakteristikum des schriftlichen Textes stellt für die Leser und ihr Verstehen des Kommunikationsprozesses eine noch viel größere Herausforderung dar: die „Distanz“ zum Autor (und seiner Situation) und folglich die Funktion der Hermeneutik im Kommunikationsprozess mit einem antiken Text. Dieses Thema interessiert hier vor allem, weil die realen Leser eines antiken Textes wie der Bibel im Laufe der Zeit und im kulturellen Kontext immer wieder andere sind und weil außerdem eine beachtliche Distanz zwischen den Lesern, für die das Werk ursprünglich geschrieben wurde und den Lesern unserer Zeit besteht. Dabei handelt es sich nicht nur um eine zeitliche oder existentielle Distanz, sondern auch um eine kulturelle. Diese Distanz führt zur Frage, wie heutige Leser einen kommunikativen Prozess mit in vielerlei Hinsicht „so weit entfernten“ Autoren herstellen können. An diesem Punkt kommt die Rolle des „Lesers“ ins Spiel.
Autor, Leser und Textstrategie
Zu den wesentlichen Elementen eines Textes11 gehören die Kategorien von Autor und Leser. Wenn man von Autor und Leser spricht, denkt man meistens an Menschen aus Fleisch und Blut, die ein Werk schreiben bzw. lesen. Im Fall des Markusevangeliums denkt man z.B. beim Autor an den Mann, den die altkirchliche Tradition mit Johannes-Markus aus Jerusalem identifiziert und von dem vor allem die Apostelgeschichte erzählt: an den Sohn einer gewissen Maria (Apg 12,12), ursprünglich Schüler von Barnabas und Paulus (Apg 12,25), dann aber – weil er von Paulus abgelehnt wurde – ständiger Begleiter des Barnabas bei der Mission auf Zypern (Apg 15,37-39) und schließlich der Gefährte und Übersetzer von Petrus in Rom (1 Petr 5,13). Bei der Gemeinde, für die Markus schrieb, denkt man dann an die Gemeinschaft der ersten Christen im ersten Jhd. in Rom.
Die Literaturtheoretiker unterscheiden aber zwischen „empirischen“ oder „realen“ und den „impliziten“ Autoren und Lesern.12 Diese Unterscheidung ist wichtig für das Verständnis des Kommunikationsprozesses, der in einem Text abläuft. In Wirklichkeit bekommt der empirische Leser beim Lesen keinen Kontakt zum realen Autor und zu den realen Lesern, sondern nur mit dem Autor und den Lesern, die im Text vorkommen; es sind „literarische“ Figuren, die dem Text eingeschrieben sind.13 In derselben Weise sind der Leser des Evangeliums bzw. die Adressaten, an die sich das Werk richtet, diejenigen, die sich der Autor vorgestellt hat. Jeder Autor, der einen Text verfasst, schreibt seinen Lesern bestimmte Qualitäten und Fähigkeiten zu und drückt diese in der Form seiner Sprache aus. U. Eco unterstreicht deshalb in seinem Werk Lector in fabula, dass „der Text ein träger (oder ökonomischer) Mechanismus ist (…), der von dem – vom Empfänger aufgebrachten – Mehrwert an Sinn lebt (…).“14 Man könnte sagen, dass jeder Text, der aus kommunikativer Perspektive gelesen wird, sehr viele Interpretationsmöglichkeiten enthält, aber er braucht auch einen Leser, der an der Verwirklichung dieser Interpretationsmöglichkeiten mitwirkt. In jedem Fall sucht sich der Text seinen Leser: einen Leser, der in der Lage ist, bestimmte Beziehungen herzustellen und der literarische Indizien, Impulse und Kommunikationsschemata erkennen kann. In diesem Sinn spricht U. Eco vom „Modell-Leser“, den er wie folgt beschreibt: „Um die eigene Textstrategie vorzubereiten und durchzuführen, muss der Autor sich an eine Reihe von Kompetenzen (…) wenden, welche den Ausdrücken, derer er sich bedient, Inhalte zuweisen. Er muss dabei voraussetzen, dass die Gesamtheit von Kompetenzen, auf die er sich bezieht, dieselbe ist, auf die sich auch der Leser beziehen wird. Allerdings wird er einen Modell-Leser voraussetzen, der in der Lage ist, an der Aktualisierung des Textes so mitzuwirken, wie es sich der Autor gedacht hat, und sich in seiner Interpretation fortzubewegen, wie jener seine Züge bei der Hervorbringung des Werkes gesetzt hat. (…) Wenn also jeweils ein eigner Modell-Leser vorgegeben ist, so bedeutet dies nicht allein die ‚Hoffnung‘, dass er existieren möge, sondern es heißt auch, dass der Text Bewegungen vollzieht, innerhalb derer sich jener konstituieren kann.“15 Wir können also sagen, dass der Autor eines Werkes seine eigene narrative Strategie vorbildet und aufbaut, sich also seinen Modell-Leser16 schafft, indem er ihn als seinen bevorzugten Gesprächspartner wählt, als denjenigen, der seine Anweisungen versteht und treu ausführt. Ein Text ist ein „Kunstgriff“, der dieses Ziel anstrebt.
In dieser Hinsicht bedeutet einen Text zu decodieren, dessen narrative Strategie zu verstehen: den Prozess, die Techniken, Verweise und Vorgehensweisen, etc., derer sich der Autor bedient, um seinen idealen Leser zu konstruieren. Bestimmte Anspielungen und Ellipsen gehorchen sicherlich stilistischen und ästhetischen Regeln, aber sie entsprechen vor allem dem Bezug, den der Autor zu seinem Modell-Leser herstellen will. Der Modell-Leser ist der ideale Leser, in dem die Absicht des Textes ihre Verwirklichung erreicht.17 Jedes Werk sieht seinen idealen Leser vor und konstruiert ihn entsprechend; das gilt besonders auch von der Bibel, die in der „Modell-Antwort“ des Menschen ein konstitutives Element der Heilserfahrung sieht.
Biblischer Text, Modell-Leser und empirische Leser
Die letzten Fragen, die sich nun stellen, sind: Welchen Modell-Leser verlangt der biblische Text? Und: Welche Beziehung besteht zwischen ihm und den realen Lesern? Um auf diese Fragen zu antworten, werde ich vom hebräischen und biblischen Verständnis der „Wahrheit“ ausgehen, das nicht einfach dem griechischen entspricht. Im Kontext des klassischen Griechisch hat a-lētheia mit der Vorsilbe a- und der Wurzel lanthanō (verbergen) die Bedeutung von enthüllen, eröffnen, wobei das Sich-Offenbaren der Wirklichkeit in seinem Wesen und zugleich der ontologische Aspekt des Seins hervorgehoben wird. Der hebräische Begriff ’emet steht dagegen in Beziehung mit der Wurzel ’aman und betont die Stabilität und Glaubwürdigkeit. In seiner Bedeutung steht er dem Begriff der Gerechtigkeit im Sinne der Rechtschaffenheit nahe. In der Septuaginta wird ’emet in der Tat auch mit pistis (Glaube) und dikaiōsynē (Gerechtigkeit) übersetzt. Im Begriffspaar hesed we’emet (Treue und Wahrhaftigkeit, vgl. Ex 34,6) erhellen die beiden Begriffe sich gegenseitig und lassen verstehen, dass der Begriff „Wahrheit” in der religiösen hebräischen Sprache mehr ist als nur logische Richtigkeit bzw. Wahrheit. Die Wahrheit wird vielmehr als Ausdruck des Handelns verstanden; das zeigt sich besonders daran, dass die Wahrheit Gottes identisch ist mit der Treue zu seinen Verheißungen (vgl. Ps 31,6; Jes 38,18-19).
Wenn wir all dies auf das Gebiet der Hermeneutik übertragen, wird deutlich, dass die Wahrheit eines biblischen Textes nicht voll erfasst wird, wenn sie nur in „erklärende“ Schemata übersetzt wird, sondern erst dann, wenn sie in den Bereich der Praxis übertragen wird, so dass sie konkret „erfahren“ wird und „gelebt“ werden kann. Mit anderen Worten: die Wahrheit wird nicht ausschließlich vom begrifflichen oder ästhetischen Pol her bestimmt, sondern ebenso auch vom ethischen – nicht allein von der Orthodoxie her, sondern ebenso von der Orthopraxis. Die Wahrheit einer biblischen Botschaft beruht auf der Wahrhaftigkeit der Existenz. Der hermeneutische Prozess muss also diese pragmatische Instanz des biblischen Wortes hervorheben. Eine Methode sollte ihrem Ziel angemessen sein; eine angemessene Auslegung muss daher den bevorzugten Punkt finden, von dem aus das Werk die Wirklichkeit betrachtet und interpretiert. Was nun den biblischen Text betrifft, kann es also nicht allein um eine rein begriffliche Dimension gehen, denn eine angemessene Hermeneutik kann nicht in der „Kühltruhe“ einer rein theoretischen Korrektheit eingeschlossen werden, weil die Bibel nicht einfach nur „Verstehen“ sondern das „Leben“ entsprechend dem Willen Gottes sucht.
Die Funktion des Modell-Lesers besteht auf der literarischen Ebene darin, eine solche „Wahrheit“, die im Text grundgelegt ist, zu verkörpern und damit den realen Leser vor den Anspruch zu stellen, diese „Wahrheit“ in konkrete Formen der Existenz umzusetzen. Beim Lesen einer Seite aus der Bibel treten die empirischen Leser des einundzwanzigsten Jahrhunderts in Beziehung mit der „Wahrheit“ des Textes, indem sie mit der „Figur“ des Modell-Lesers kommunizieren, die diese Wahrheit verkörpert. Vor dem Modell-Leser, der in sich die Qualitäten des idealen Lesers vereinigt, ist der empirische Leser zu einer konstanten, wahrhaftigen Beziehung genötigt, indem er an den Emotionen teilhat, die der Text hervorruft und vor allem, indem er das in der Bibel enthaltene Wertesystem für sich übernimmt. Die Leser zu allen Zeiten – aus unterschiedlichen Kulturen, sozialen Schichten und mit unterschiedlichen Empfindungen – sind ständig dazu aufgerufen, mit dem impliziten Leser, der im Bibeltext deutlich wird, zu inter-agieren und sich mit den Modellen, die von ihm verkörpert werden, auseinanderzusetzen – indem sie sie gerade nicht einfach kopieren, sondern indem sie sie vielmehr überdenken und neu formulieren. Es ist völlig evident, dass sich in dieser Weise die Wahrheit, die vom Modell-Leser repräsentiert wird, nicht in einer einzigen Aktualisierung erschöpft, sondern vielmehr verschiedene Weisen annimmt, je nach den Gegebenheiten und Umständen; all diese Modalitäten sind jedoch in der Wahrheit des Modell-Lesers bzw. in der Textstrategie enthalten. Auf diese Weise erlangt die biblische Exegese ihre hermeneutische Dimension wieder und wird zur Lebensquelle für das Handeln von Einzelnen und der Gemeinschaft der Gläubigen.
1 Der metaphorische Gebrauch des Ausdrucks scheint auf Quintilian zurückzugehen. Die Beachtung des „Gewebes“ in der Rede kommt im Italienischen auch in anderen Metaphern aus dem Textilbereich zum Ausdruck, wie z.B. tela (Gewebe) oder ordito (Netz, Handlungsgerüst).
2 Normalerweise setzt sich ein Text aus mehreren Sätzen zusammen.
3 T. A. van Dijk nennt ihn „Makro-Sprechakt“: T. A. van Dijk, Textwissenschaft, München 1980,212.
4 M. A. K. Halliday, Spoken and Written Language, Victoria 1985 (hier zitiert nach der it. Übers. Lingua parlata e lingua scritta) 180.
5 Die Sprache ist für De Saussure das System der Zeichen jeglicher Sprache, gleichsam „die Summe der in jedem Gehirn abgelegten Eindrücke“.
6 Wort meint das, was in der Sprache von den aktuellen Variationen des Sprechenden abhängt, also „ein Akt des Willens und der Intelligenz“.
7 Mit deiktischen Zeichen sind jene gemeint, die die Funktion haben, auf etwas hinzuweisen, das relativ zum Sprecher und Hörer ist, wie z.B. „hier“, „dort“, „jetzt“ oder auch die Demonstrativpronomen.
8 Cf. C. Darwin, The Expression of the Emotion in Man and Animal, London 1872.
9 N. H. Frijda, Emozioni, Bologna 1990.
10 Vgl. A. Fumagalli, Gesù crocifisso, straniero fino alla fine dei tempi. Una lettura di Mt 25,31-46 in chiave communicativa (EHS 23/707) Frankfurt 2000, 49.
11 Nach S. Chatman, Storia e discorso. La struttura narrativa nel romanzo e nel film, Milano 21998, bilden Ereignisse, Personen und Umfeld die „Geschichte“, das „Was“ der Erzählung, während die Elemente, die das „Wie“ bestimmen, den „Diskurs“ bilden.
12 Die Literaturtheoretiker unterscheiden zwischen dem „realen Autor“, dem „impliziten Autor“ und dem „Erzähler“ auf der einen Seite und dem „realen Leser“, dem „impliziten Leser“ und dem „Erzähladressaten (Narratario)“ auf der anderen Seite. Vgl. S. Chatman, Storia e discorso, a.a.O., 155-159.
13 Ich gehe hier nicht noch ausführlicher auf die Unterscheidung zwischen dem Erzähler und dem Erzähladressaten ein, die von vielen Literaturtheoretikern ebenfalls unterschieden werden. Es ist aber klar, dass z.B. im Roman Hadrians Memoiren von M. Yourcenar die Stimme des Kaisers Hadrian, der seine Geschichte erzählt, sich von der der Autorin unterscheidet; aber im Fall einer Erzählung aus dem Evangelium ist eine solche Unterscheidung nicht so gravierend, weil die Stimme, die erzählt, keine andere ist als die vertrauenswürdige Stimme des impliziten Autors, den wir Markus, Matthäus, Lukas oder Johannes nennen.
14U. Eco, Lector in fabula, München 31998, 63.
15 U. Eco, Lector in fabula, a.a.O., 67 und 68.
16 Der Begriff des „impliziten Lesers“ wurde vor allem in den siebziger Jahren entwickelt, besonders in den Studien von W. Iser, Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, München 1972 und ders., Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1975. U. Eco hat diese Gedanken weiterentwickelt, indem er besonders den Modell-Leser herausgearbeitet hat, vgl. U. Eco, Lector in fabula.
17 Vgl. die Beschreibung von A. Fumagalli, Gesù crocifisso, a.a.O., 48-56.